Dehnen und Strecken

„Komm, spring! Spring in meine Arme, ich fange dich auf!“, ruft der Vater im Schwimmbecken seiner kleinen Tochter zu. Die steht mit roten Wangen am Beckenrand und überlegt. Soll sie springen oder nicht? Springen, das bedeutet, den sicheren Boden zu verlassen und sich in eine Ungewissheit zu begeben. Andererseits: Die Ungewissheit hält auch Aufregendes, Spannendes bereit, das es zu entdecken gilt. Die Tochter atmet tief ein, hält sich die Nase zu und springt.

Ein Kind wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit für das Neue, Ungewisse entscheiden. So sind wir geboren, so sind wir programmiert, um täglich über uns hinauswachsen zu können, auch als Erwachsene. Die Imago-Paartherapie hat dafür einen Begriff geprägt. Die Angst zu überwinden, um etwas Neues zu wagen, nennt sie das „Dehnen des emotionalen Muskels“. Immer wenn es darum geht, die Komfortzone zu verlassen, um einen bisher unbekannten Pfad einzuschlagen, spricht man vom „Dehnen“.

Dehnen ist ein Lebenselixier – und Mut die notwendige Ingredienz. Wer sich nie aus der Komfortzone herausbewegt, verzichtet auf Abenteuer, Leidenschaft, Spaß, ja, auf Lebendigkeit. Wer hingegen offenen Auges und offenen Herzens durch die Welt geht, wird viel Neues entdecken. In unserer Praxis werden wir oft Zeuge erwachten Entdeckergeists: eine Frau, die sich dehnt, indem sie vor einem großen Publikum spricht, obwohl sie sich am liebsten verkrochen hätte; ein Mann, der trotz seiner Flugangst seiner Frau zuliebe endlich Ja zu einer Fernreise sagt.

Oft braucht es den Impuls eines anderen Menschen. Mein Mann hat öfter angeregt, ich möge doch am Morgen eine Runde laufen gehen. Ich wollte deswegen nicht früher aufstehen und ärgerte mich zunächst über seine Idee. Doch ich wollte andererseits etwas für meinen Körper tun. Also überwand ich mich. Wenn ich am Abend zu Bett gehe und feststelle, dass ich heute Morgen wieder meinen inneren Schweinehund überwunden habe, erfüllt mich das mit Dankbarkeit und Stolz. Dehnen ist mit Widerstand verbunden, der emotionale Muskel schmerzt. Doch mit jeder kleinen Dehnung wachse ich, erweitere ich meine Perspektive und spüre das Leben besonders intensiv.

Dieser Beitrag wurde im Mai 2014 in der Serie „Gedanken für den Tag“ von Ö1 ausgestrahlt. Alle Beiträge der Bösels zur Serie „Gedanken für den Tag“:

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